Wie kann der Einsatz von Storytelling im Bildungsumfeld dienen?
Einleitung
Vor 20 Jahren habe ich angefangen Storytelling in meinen Vorlesungen zu unterrichten, damals als Teil des Englischcurriculums an der Vorarlberger Fachhochschule in Österreich. Dank meinem Kollegen Micheal Williams konnte ich einen interessanten Englischkurs für Studenten der Betriebswirtschaftslehre anbieten. English for Executive Storytelling war ein Angebot, das zunächst mit wenig Euphorie von den Studierenden angenommen wurde – damals war es wohl seiner Zeit ziemlich voraus. Am letzten Tag des Englischunterrichts waren die Studenten aufgefordert, eine Story aus ihrem Leben in der Gruppe zu erzählen. Und so haben die Studierenden in 5 Minuten Dinge über ihre Mitstudierenden gelernt, die sie in den 6 gemeinsamen Semestern nicht erfahren konnten. Es war eine tolle Lehrveranstaltung. Die Teilnehmenden haben ihre Englischkenntnisse verbessert – gute Stories lassen keine Details aus und erfordern eine bildhafte Sprache – und zudem haben wir erfahren, dass ein Studierender beim Eurovision Song Contest mitgesungen hatte, dass eine Studentin einen Doppelweltmeistertitel in Kunstfahrradfahren erwarb und dass einer der besten Studenten des Kurses am Anfang seiner Karriere eine englische Firmenpräsentation vor seinem Chef aus dem Stehgreif halten musste und sich so blamierte, dass er sofort begann seine Englischkenntnisse zu perfektionieren . Dieses Semester werde ich nie vergessen. Meine erste Storytelling-Veranstaltung. Die Studierenden reden heute noch davon.
Stories sind universell
Storytelling kann in alle Fächer oder Studienrichtungen eingegliedert werden. Stories sind universell, ein Teil des Lebens und aller Kulturen. Ob es um die Gebrüder Grimm, die Bhagavad-Gita, die Tausendundeine Nacht-Erzählungen oder die amerikanische Chicken Soup for the Soul-Serien geht, Stories erzählen, wie das Leben läuft, wie Dinge sich ändern und was Menschen aus diesen Stories lernen. Es kann sich jeder mit einer Story identifizieren und deswegen sind Erzählungen so wichtig in der Bildung. Früher hat man Stories über den Zaun erzählt, das war Unterhaltung im Dorf. Heutzutage, in den Zeiten von COVID-19, ist meine Straße im verschlafenen Berkhamsted, UK durch eine gesprächige WhatsApp-Gruppe lebendig geworden. Es werden Geschichten getauscht und ein „zuhörendes Ohr“ ist 24 Stunden bereit, falls man Unterstützung braucht. Stories sind aber nicht immer positiv. Leider werden auch schreckliche Geschichten weitererzählt, die nicht wahr sind – Gerüchte, urbane Mythen, und wieder etwas Zeitnahes: Verschwörungstheorien. Unwahrheiten werden wiederholt, übersetzt, umgeändert und fliegen um die Welt wie stille Post. Warum? Weil man einer guten Geschichte einfach nicht widerstehen kann!
Stories sind das, woran wir uns erinnern
Präsentationen ohne Storytelling sind unmenschlich. Anekdoten sind Pflicht! Geschichten sind das, woran wir uns erinnern. Sie sind die Links zu den Fakten. Ohne Storytelling bleibt Theorie bloße Theorie, bleiben Fakten nüchterne Fakten und bleibt das Publikum einfach nur Publikum. Storytelling behandelt das Publikum wie Menschen. Laut Robert McKee[1], in Business sollen Präsentationen das Publikum überzeugen. Präsentationen sind eine Push-Strategie. Storytelling ist eine Pull-Strategie. Das menschliche Gehirn neigt dazu, Fakten und Stichpunkte zu vergessen. Eine Geschichte greift nicht nach der Macht. Sie schafft Macht über die Emotionen. Wenn ich in meinen interkulturellen Vorlesungen oder Trainings über Kulturdimensionen erzähle, ist eine Anekdote der Zugang zum Thema, diese schafft unverzüglich eine bessere Verbindung zur Theorie. Nehmen wir als Beispiel aus meinem Fachgebiet Geert Hofstede[2] und seine Kulturdimension Machtdistanz. Machtdistanz klingt sehr abstrakt. Aber, wenn ich erzähle, wie viel Respekt ich als Dozentin in Indien auf der Uni bekomme, und dass zwei indische Studenten letztes Jahr meine Füße aus Anerkennung und Respekt geküsst haben, wird die hohe Hierarchie (Machtdistanz) in Indien bildhaft, und schon ist die Kulturdimension leicht begreifbar. Im Bereich der interkulturellen Kommunikation kann Storytelling wunderbar zum Einsatz kommen. Mit Stories lernen wir Kontexte zu sehen und durch diese Stories können wir das Anderssein besser verstehen.
Storytelling und kritisches Denken
Im Jahr 1969 hat Charles Handy Literaturwissenschaft an der London School of Economics eingeführt. Wie bei meinen Betriebswirtschaftlern in Vorarlberg, waren die Ökonomen nicht wirklich begeistert. Die Begründung von Handy lautete: “Great art worms its way into the soul in a way that company accounts cannot.”[3] Stories fördern kritisches Denken und moralisches oder ethisches Handeln. Storytelling schärft das Denken. Durch das Lesen von Shakespeare oder Conrad werden Studierende mit Gedanken über das Handeln in kritischen Situationen konfrontiert, sie werden angeregt, Lösungen zu finden und zu verstehen, dass Handeln immer kontextbezogen ist. In Business geht’s darum Dilemmas auszugleichen. Bei Shakespeare geht es oft darum, wie weit Menschen gehen, um ihre Ziele zu erreichen (denke an Othello, Romeo und Julia usw…). In meiner Storytelling-Lehrveranstaltung haben wir Kurzgeschichten von Chekhov, O.Henry und de Maupassant gelesen und viele Parallele gezogen – ethische Fragen wie, ob es besser sei die Wahrheit zu sagen oder zu schweigen, oder ob man mit weniger oder keinem Geld leben könnte – wir haben tolle Debatten geführt. Und diese Stories waren teilweise aus dem neunzehnten Jahrhundert. Diese Themen sind aktuell in unserer COVID-19 Welt. Kurz gefasst, gute Stories haben immer Relevanz, Dilemmas sind zeitlos.
Storytelling and Storylistening
Das Thema Storylistening beschäftigt mich ebenfalls sehr in meinem Job. Ich arbeite öfters im internationalen Klassenzimmer und habe schon mehrfach in Leitungsteams interkultureller Exkursionen mitgearbeitet. In meinen vielen Seminaren in Indien und Russland lernen die Studierenden über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zweier Kulturen. Ich als Engländerin stehe zwischen drei Kulturen und begleite die Studierenden in ihren Lernprozessen. Beim Geschichtenerzählen geht es nicht nur um die Informationen, die wir mitteilen wollen, es geht auch darum, wie die Geschichten gehört werden und was die Zuhörenden mit den Informationen machen. Es geht hier um den Kontext und die Wahrnehmung der Botschaft durch den Zuhörenden. Geschichtenerzählen ist also mehr als Storytelling, es ist auch Storylistening. Wir können unser stereotypisches Denken in Frage stellen, wenn wir die Stories von anderen hören und kulturelle Dimensionen mit Beispielen zum Leben erwecken. Bei der Kennenlernrunde des „XPlore India“ Programes, staune ich jedes Jahr, wie sich zwei Kulturgruppen anhand Hofstedes Kulturzwiebelmodell über ihre Kulturen austauschen. Sie erzählen, hören zu und protestieren, wenn die Zeit zum Aufhören angekündigt wird. Das ist Storytelling und Storylistening vom Feinsten. Was will man als Dozent mehr? Annette Simmons sagte: „Storytelling is the closest you can get to taking someone else for a walk in your shoes.”[4] Meiner Meinung nach sollten wir möglichst viele Schuhe tragen, denn, je mehr Schuhe wir tragen, desto mehr werden wir die Wege der Welt verstehen. Auf sehr vielen Ebenen. Aktives Zuhören ist in diesen Tagen unumgänglich für einen verständnisvollen Dialog.
Schluss
Es ist eine Tatsache, dass man über emotionale Erfahrungen lernt. Ein Gleichgewicht zwischen Fakten und Geschichten herzustellen ist Voraussetzung für Bildung. Mit Geschichten können Gefühle und Emotionen hervorgerufen werden und sobald das passiert, werden die Fakten und Thesen, die wir in der Bildung mitteilen wollen, leichter zugänglich gemacht. Stories werden in der Bildung eine immer größere Rolle spielen – das Thema Diversität und Inklusion ist ein lebendes Beispiel, wo sehr viel erzählt wird aber zu wenig konkret gemacht wird. Um D&I-Strategien zu implementieren, wäre es wichtig innerhalb von Bildungsanstalten (und Firmen) Stories zu erzählen und Stories zu hören. Nur so können wir einen echten Austausch über unsere Backgrounds herstellen und damit Stereotypen abschaffen. Ich empfehle jedem Stories in einem eigenen Story-Buch zu sammeln und zu überlegen zu welchem Anlass man diese Stories erzählen kann – sei es beim Jobinterview, bei Präsentationen oder um Beziehungen zu bilden. Stories sind eine Grundvoraussetzung des Miteinanders und das Miteinander ist eine Grundvoraussetzung, damit Bildung geschehen kann.
[1] Robert Mc Gee, Storytelling That Moves People, A Conversation with Screenwriting Coach, (Harvard: HBR, 2003)
[2] https://hi.hofstede-insights.com/national-culture
[3] Charles Handy, Myself and Other More Important Matters, (London: Heinemann, 2006) p.78,
[4] Annette Simmons, The Story Factor – inspiration, influence and persuasion through the art of storytelling, (New York: Basic Books, Revised ed. 2006) p.45